Logo

Paris – Boulevard St. Martin No. 11 – Lesung aus Peter Gingolds Erinnerungen

Am Freitag (9. März 2018) durfte ein interessiertes Publikum den 2006 im Alter von 90 Jahren verstorbenen Widerstandskämpfer Peter Gingold kennenlernen. Aus Gingolds Nachlass entstand das von Dr. Ulrich Schneider im Jahre 2015 herausgegebene Buch „Paris – Boulevard St. Martin No. 11“, das Schneider und Gingolds jüngste Tochter Silvia in Fulda vorstellten. Das Werk vermittelt: „Ein lebendiges Bild eines Mannes, der sich zeit seines Lebens mit nicht nachlassender Tatkraft und viel Optimismus gegen das Vergessen und für Zivilcourage eingesetzt hat.„, kommentierte der Hessische Rundfunk die Buchveröffentlichung.

 

Zu der Lesung eingeladen hatten das „Bündnis Fulda stellt sich quer e. V.“ und die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) in den DGB-Vortragsraum. Eröffnet wurde der Abend von Angelika Balzer.

Begonnen wurde mit Auszügen einer Filmdokumentation, in denen Peter und seine Frau Ettie Gingold aus ihren Leben erzählten. Originalfilmaufnahmen der besetzten französischen Hauptstadt vermittelten einen Eindruck aus der Zeit der Nazi-Gewaltherrschaft. Im französischen Exil engagierten sich beide im Widerstand gegen Nazi-Deutschland und lernten sich 1936 in Paris kennen und lieben.

Anhand vorgetragener kurzer Episoden wurde der ab 1931 in der deutschen kommunistischen Jugendbewegung aktive Kämpfer für Freiheit und Frieden geradezu lebendig.

1933 folgte Peter Gingold seinen emigrierten Eltern und Geschwistern nach Paris.

1943 wurde Peter Gingold in Dijon verhaftet, wochenlang von der Gestapo gefoltert und verhört. Nach seiner Flucht – wie er seine Folterer ausgetrickst hat, ist titelgebend für die posthume Buchveröffentlichung seiner Erinnerungen – setzte er seine risikoreiche Arbeit im Widerstand gegen Nazi-Deutschland fort. Beteiligt war er auch beim Aufstand zur Befreiung von Paris. Zwei seiner Geschwister, Dora und Leo, wurden 1942 in Frankreich festgenommen, 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Den 8. Mai 1945, von ihm als das „Morgenrot der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet, erlebte er in Turin mit der italienischen Resistenza. Umgehend kehrte er in sein Heimatland zurück. Zunächst erreichte er Berlin, doch es gelang ihm bald, in seine Heimatstadt Frankfurt reisen zu dürfen und konnte nach wenigen Monaten auch seine Familie zu sich holen. Seine Eltern und die verbliebenen drei Geschwister mit Familien blieben in Frankreich.

Sobald alte Nazis wieder an Schaltstellen der Verwaltungen saßen, begann Verfolgung 2.0: Ein eifriger bundesdeutscher Beamter bemerkte, dass der in Aschaffenburg geborene Peter Sohn polnisch stämmiger jüdischer Eltern war und in Nazi-Deutschland als Pole galt und so naturgemäß Dokumente fehlten, die ihn als Deutschen auswiesen: Kein Dokument, kein Deutscher. So wurde der Familie die deutsche Staatsbürgerschaft 1956 aberkannt – obwohl Peter und Ettie aktiv gegen die Nazis gearbeitet hatten und so ihren Anteil an der Befreiung geleistet hatten. Gingolds waren viele Jahre staatenlos – selbst die in Frankfurt geborene Tochter Silvia. Ohne staatsbürgerliche Rechte kämpften Gingolds lange um die deutsche Staatsangehörigkeit. Erst 1974 wurden alle vier wieder eingebürgert – dank des öffentlichen Drucks vieler Persönlichkeiten in Deutschland und der französischen Regierung.

Doch das war noch immer nicht genug der Verfolgung – 2.1 folgte bereits ein Jahr später: 1975 wurde Silvia Gingold aufgrund des sogenannten „Radikalenerlasses“ aus dem Schuldienst entlassen, obwohl in der Schule und deren Leitung als kompetent geschätzt. Viele prominente Wissenschaftler*innen und Künstler*innen setzten sich öffentlich für sie ein. 1976 stellte ein Gericht fest, dass die Entlassung zu Unrecht geschehen war. Sie wurde wieder in den Schuldienst übernommen – allerdings nicht mehr als Beamtin, sondern als angestellte Lehrerin. Eine Rehabilitierung erfolgte nie, sie kämpft noch heute darum. Auch die vom Verfassungsschutz über sie gesammelten Daten werden auch im Jahr 2018 noch dort gesammelt.

Starken Zuspruch fanden das Buch zur Lesung sowie weitere Veröffentlichungen über das beeindruckende Leben eines starken Mannes, der bis zum Ende seines Daseins Menschen zu überzeugen suchte, gegen Krieg und Faschismus einzutreten, niemals andere deren Überzeugung oder Herkunft wegen abzulehnen. Besonders Gespräche mit jungen Leuten lagen ihm sehr am Herzen. In zahllosen Vorträgen auf Bildungs- und Kulturveranstaltungen und in Schulen veranschaulichte er als Zeitzeuge die von Nazi-Deutschland ausgegangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Seit 1946 war Peter Gingold mehrere Male auch in Fulda gewesen. Hier hielt der 90-Jährige am 19. August 2006 wenige Wochen vor seinem Tod die letzte öffentliche Rede seines Lebens – im Rahmen der erfolgreichen Verhinderung einer Nazidemonstration.

Andreas Goerke, Sprecher des „Bündnis Fulda stellt sich quer e. V.“ war sehr zufrieden mit dem gelungenen Abend und kündigte an, weitere Veranstaltungen und Aktionen gegen Verfolgung und für ein friedliches Miteinander, zu initiieren.

 

Peter Gingold / Dr. Ulrich Schneider (Hrsg.) (2015): Paris – Boulevard St. Martin No. 11.

Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik.

PapyRossa, Neue Kleine Bibliothek 136. Köln. ISBN 978-3-894384-07-4. 14,90 €

Categories:

Alle Nachrichten